Montag, 30. April 2018

Empfehlungen zu Religion und Spiritualität in der Psychotherapie



Empfehlungen der DGPPN zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität (R/S) in Psychiatrie und Psychotherapie
 
Religion, Spiritualität und Psychotherapie

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hat 2016 von einer Expertengruppe[1] "Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie" erarbeiten lassen. Die Autoren sehen die früher vorherrschende Religionskritik und Pathologisierung von R/S, die zum Beispiel noch in der "Richtlinie des österreichischen Gesundheitsministeriums zur Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden" aus dem Jahr 2014 zum Ausdruck kommt, als in ihrer Einseitigkeit heute nicht mehr angemessen an. Die Autoren verweisen insbesondere auf die USA, wo religiöse und spirituelle Kompetenzen für Psychiater und Psychotherapeuten sogar ausdrücklich beschrieben und gefordert  werden.
Auch deutsche Patienten mit psychischen Erkrankungen würden erwarten, dass ihre Psychiater und Psychotherapeuten ihre Lebenssituation auch in ihrer existenziellen, spirituellen und religiösen Dimension ganzheitlich wahrnehmen. Die direkte Ansprache und unmittelbare Bearbeitung existenzieller Themen in der Behandlung sei für die Krankheitsverarbeitung bedeutsam ist. Ohne Verständnis für die kulturellen und religiösen Besonderheiten von Patienten bestehe die Gefahr, dass religionsspezifische Tabus und Grenzen unwissentlich durch die Behandler verletzt werden. Die Akutpsychiatrie müsse die religiöse und spirituelle Erfahrung und Ausrichtung der Patienten bei der Anamnese und Differenzialdiagnose berücksichtigen, vor allem bei Suizidalität, religiösem Wahn, depressivem Schuldgefühl und bei Traumafolgestörungen. Es sei wichtig, dass die Behandler ihre eigenen Werte und Grundannahmen hinsichtlich R/S reflektieren und transparent machen, um angemessen mit R/S der Patienten umzugehen.
Die Autoren verstehen unter Religion eine Gemeinschaft, die Traditionen, Rituale und Texte teilt (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus u.a.). Religiosität meine über die institutionelle Religionszugehörigkeit hinaus eine persönliche Gestaltung und Lebenspraxis von Religion. Spiritualität sei als Containerbegriff zu verstehen, der die persönliche Suche nach dem Heiligen, nach Verbundenheit oder Selbsttranszendenz meint und ausdrücklich auch Weltanschauungen außerhalb der institutionalisierten Religionen mit einschließt. Die Autoren sehen R/S als anthropologische Universalien des Menschseins und als identitätsbildendes, persönliches Sinnsystem. Sie seien in der Psychotherapie unabhängig vom Gesundheitsoutcome oder der Effizienz therapeutischer Interventionen ganzheitlich wahrzunehmen und zu würdigen.
Zum aktuellen Forschungsstand
Die Autoren stellen in der Psychotherapie im deutschsprachigen Raum eine große Zurückhaltung gegenüber spirituellen Interventionen fest. In Europa werde  die Gefahr von Grenzüberschreitung von Therapeuten stärker thematisiert als in den USA, wo sich Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig an den Leiter ihrer religiösen Gemeinschaft wendeten. Englischsprachige psychologische und psychiatrische Fachgesellschaften hätten bereits eigene Konsenspapiere, Leitlinien,  Ratgeber und Fortbildungsangebote erarbeitet, wie im Kontext mit R/S angemessen mit psychischen Erkrankungen umzugehen sei. In den letzten 15 Jahren sei über ein Dutzend englischsprachiger Lehrbücher zur Psychologie der R/S herausgegeben worden.
Die große Fülle an Studien und Veröffentlichungen im englischsprachigen Bereich zum Zusammenhang von R/S und Gesundheit leide aber – trotz einiger kritischer Stimmen in den USA – an dem grundlegenden Bias, Therapieeffekte eher auf die Wirkkraft des Glaubens als auf psychologische Mechanismen zurückzuführen. Ein Nachholbedarf bestehe daher an psychiatrischen und psychologischen Zusammenhangsmodellen, warum R/S als Ressource oder Belastungsfaktor wirken. Religiöse und spirituelle Themen würden in der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychotherapie noch nicht ausreichend fachlich reflektiert, beforscht und in der Ausbildung vermittelt.
Insbesondere auch angesichts des ausufernden psycho-spirituellen Lebenshilfemarkts mit z.T. fragwürdigen Angeboten drängten wichtige Fragen nach einer Antwort: Ist Sinngebung Aufgabe von Psychotherapie? Wie weit darf die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung des Patienten in seiner existenziellen, religiösen und spirituellen Suche gehen? Welche professionellen Grenzen sind notwendig und sinnvoll, um die Freiheit von Patient und Behandler zu schützen?
Konkrete Empfehlungen
1. Interkulturelle Kompetenz: Da R/S kulturell geprägt ist, sollten die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt werden. Therapeuten sollten zu einem Perspektivenwechsel fähig sein.
2. Anamnese: Die Erfassung der Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen sowie deren Relevanz im Leben gehören zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese.
3. R/S im Behandlungsplan: R/S sind als Ressource und/oder Belastungsfaktor für Patienten zu erkennen und in die Behandlungsstrategie einzubinden. Dies gilt auch, wenn der Behandler selbst areligiös ist oder einer anderen Weltanschauung verpflichtet ist als der Patient. Auch bei Patienten ohne religiöse/spirituelle Anbindung ist eine Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen oft erforderlich.
4. Grenzverletzungen aus R/S-Motiven: Wenn Patienten aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen (z.B. religiöser Fanatismus/Fundamentalismus) das Behandlungssetting verletzen, müssen sie mit den geltenden Regeln als Teil des Realitätsprinzips konfrontiert werden. Durch differenzierte Interventionen sind die Grenzen zu schützen bzw. wiederherzustellen.
5. Professionelle Grenzen: Die Berufsethik von Psychiatern und Psychotherapeuten schließt religiöse oder spirituelle Interventionen aus. Trotzdem müssen die R/S des Patienten in der Therapie Raum haben.
6. Diversity Management: Der Behandler sollte, wenn es in der Therapie um die R/S des Patienten geht, seinen eigenen weltanschaulichen Hintergrund transparent machen.
7. Neutralität: Der Behandler sollte auf eine respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen möglichen Transzendenzbezug seines Patienten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Führung andererseits sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit im Interesse des Patienten kann aber in vielen Fällen sinnvoll sein.
8. Passung in der therapeutischen Beziehung: Psychiater und Psychotherapeuten sollten ihre eigene weltanschauliche Orientierung kennen und in der Selbsterfahrung und Supervision kritisch reflektiert haben, um mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen im Kontext von R/S umgehen zu können. Die Neutralität des Psychiaters und Psychotherapeuten in weltanschaulichen, Wahrheits- und Wertefragen sollte in einem ausgewogenen Verhältnis zu seiner religiösen oder spirituellen Selbstdeklaration stehen.
9. Aus-, Fort- und Weiterbildung: Die psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Aus-, Fort- und Weiterbildung muss sowohl hinsichtlich eines Grundwissens von Religions- und Weltanschauungsfragen und insbesondere hinsichtlich diesbezüglicher Selbsterfahrungs-Angeboten verbessert werden.
10. Forschung: Ein interdisziplinärer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u.a. wichtig:
  • Wahrnehmen von R/S-Bedürfnissen der Patienten,
  • R/S als Behandlungshindernis und
  • Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten.

Der vollständige Text der Empfehlungen der DGPPN zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie findet sich im Internet unter dem Link:
www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2016/religiositaet.html






[1] Die Zusammensetzung der als "Task Force" bezeichneten Gruppe bestehend aus Michael Utsch, Ulrike Anderssen-Reuster, Eckhard Frick, Werner Gross, Sebastian Murken, Meryam Schouler-Ocak und Gabriele Stotz-Ingenlath sollte Ausgewogenheit hinsichtlich Konfession und Religion, kultureller Herkunft, Berufsgruppen-Zugehörigkeit sowie Genderaspekten sicherstellen.