Empfehlungen der DGPPN zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität (R/S)
in Psychiatrie und Psychotherapie
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie
und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN)
hat 2016 von einer Expertengruppe[1] "Empfehlungen
zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie"
erarbeiten lassen. Die Autoren sehen die früher vorherrschende Religionskritik und
Pathologisierung von R/S, die zum Beispiel noch in der "Richtlinie des
österreichischen Gesundheitsministeriums zur Abgrenzung der Psychotherapie von
esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden" aus dem Jahr 2014 zum
Ausdruck kommt, als in ihrer Einseitigkeit heute nicht mehr angemessen an. Die
Autoren verweisen insbesondere auf die USA, wo religiöse und spirituelle
Kompetenzen für Psychiater und Psychotherapeuten sogar ausdrücklich beschrieben
und gefordert werden.
Auch deutsche
Patienten mit psychischen Erkrankungen würden erwarten, dass ihre Psychiater und
Psychotherapeuten ihre Lebenssituation auch in ihrer existenziellen, spirituellen
und religiösen Dimension ganzheitlich wahrnehmen. Die direkte Ansprache und
unmittelbare Bearbeitung existenzieller Themen in der Behandlung sei für die
Krankheitsverarbeitung bedeutsam ist. Ohne Verständnis für die kulturellen und
religiösen Besonderheiten von Patienten bestehe die Gefahr, dass religionsspezifische
Tabus und Grenzen unwissentlich durch die Behandler verletzt werden. Die
Akutpsychiatrie müsse die religiöse und spirituelle Erfahrung und Ausrichtung
der Patienten bei der Anamnese und Differenzialdiagnose berücksichtigen, vor
allem bei Suizidalität, religiösem Wahn, depressivem Schuldgefühl und bei
Traumafolgestörungen. Es sei wichtig, dass die Behandler ihre eigenen Werte und
Grundannahmen hinsichtlich R/S reflektieren und transparent machen, um
angemessen mit R/S der Patienten umzugehen.
Die Autoren verstehen unter Religion eine
Gemeinschaft, die Traditionen, Rituale und Texte teilt (Christentum, Judentum,
Islam, Buddhismus, Hinduismus u.a.). Religiosität meine über die
institutionelle Religionszugehörigkeit hinaus eine persönliche Gestaltung und
Lebenspraxis von Religion. Spiritualität sei als Containerbegriff zu verstehen,
der die persönliche Suche nach dem Heiligen, nach Verbundenheit oder
Selbsttranszendenz meint und ausdrücklich auch Weltanschauungen außerhalb der
institutionalisierten Religionen mit einschließt. Die Autoren sehen R/S als anthropologische
Universalien des Menschseins und als identitätsbildendes, persönliches Sinnsystem.
Sie seien in der Psychotherapie unabhängig vom Gesundheitsoutcome oder der Effizienz
therapeutischer Interventionen ganzheitlich wahrzunehmen und zu würdigen.
Zum
aktuellen Forschungsstand
Die Autoren stellen in der Psychotherapie im
deutschsprachigen Raum eine große Zurückhaltung gegenüber spirituellen
Interventionen fest. In Europa werde die
Gefahr von Grenzüberschreitung von Therapeuten stärker thematisiert als in den
USA, wo sich Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig an den Leiter ihrer religiösen
Gemeinschaft wendeten. Englischsprachige psychologische und psychiatrische
Fachgesellschaften hätten bereits eigene Konsenspapiere, Leitlinien, Ratgeber und Fortbildungsangebote erarbeitet,
wie im Kontext mit R/S angemessen mit psychischen Erkrankungen umzugehen sei. In
den letzten 15 Jahren sei über ein Dutzend englischsprachiger Lehrbücher zur Psychologie
der R/S herausgegeben worden.
Die große Fülle an Studien und Veröffentlichungen
im englischsprachigen Bereich zum Zusammenhang von R/S und Gesundheit leide
aber – trotz einiger kritischer Stimmen in den USA – an dem grundlegenden Bias,
Therapieeffekte eher auf die Wirkkraft des Glaubens als auf psychologische
Mechanismen zurückzuführen. Ein Nachholbedarf bestehe daher an psychiatrischen
und psychologischen Zusammenhangsmodellen, warum R/S als Ressource oder
Belastungsfaktor wirken. Religiöse und spirituelle Themen würden in der
deutschsprachigen Psychiatrie und Psychotherapie noch nicht ausreichend
fachlich reflektiert, beforscht und in der Ausbildung vermittelt.
Insbesondere auch angesichts des ausufernden psycho-spirituellen
Lebenshilfemarkts mit z.T. fragwürdigen Angeboten drängten wichtige Fragen nach
einer Antwort: Ist Sinngebung Aufgabe von Psychotherapie? Wie weit darf die
psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung des Patienten in seiner existenziellen,
religiösen und spirituellen Suche gehen? Welche professionellen Grenzen sind
notwendig und sinnvoll, um die Freiheit von Patient und Behandler zu schützen?
Konkrete
Empfehlungen
1. Interkulturelle Kompetenz: Da R/S kulturell
geprägt ist, sollten die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in
einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt werden. Therapeuten sollten zu
einem Perspektivenwechsel fähig sein.
2. Anamnese: Die Erfassung der Wertvorstellungen
und religiösen Überzeugungen sowie deren Relevanz im Leben gehören zur
psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese.
3. R/S im Behandlungsplan: R/S sind als Ressource
und/oder Belastungsfaktor für Patienten zu erkennen und in die Behandlungsstrategie
einzubinden. Dies gilt auch, wenn der Behandler selbst areligiös ist oder einer
anderen Weltanschauung verpflichtet ist als der Patient. Auch bei Patienten ohne
religiöse/spirituelle Anbindung ist eine Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen
oft erforderlich.
4. Grenzverletzungen aus R/S-Motiven: Wenn Patienten
aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen (z.B. religiöser
Fanatismus/Fundamentalismus) das Behandlungssetting verletzen, müssen sie mit
den geltenden Regeln als Teil des Realitätsprinzips konfrontiert werden. Durch differenzierte
Interventionen sind die Grenzen zu schützen bzw. wiederherzustellen.
5. Professionelle Grenzen: Die Berufsethik von
Psychiatern und Psychotherapeuten schließt religiöse oder spirituelle Interventionen
aus. Trotzdem müssen die R/S des Patienten in der Therapie Raum haben.
6. Diversity Management: Der Behandler sollte, wenn
es in der Therapie um die R/S des Patienten geht, seinen eigenen
weltanschaulichen Hintergrund transparent machen.
7. Neutralität: Der Behandler sollte auf eine
respektvolle Weise religiös neutral bleiben, aber aufgeschlossen sein für einen
möglichen Transzendenzbezug seines Patienten. Psychiatrische und psychotherapeutische
Behandlungen einerseits und Seelsorge und spirituelle Führung andererseits
sollten unterschieden werden und getrennt bleiben. Eine Zusammenarbeit im Interesse
des Patienten kann aber in vielen Fällen sinnvoll sein.
8. Passung in der therapeutischen Beziehung:
Psychiater und Psychotherapeuten sollten ihre eigene weltanschauliche
Orientierung kennen und in der Selbsterfahrung und Supervision kritisch
reflektiert haben, um mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen im
Kontext von R/S umgehen zu können. Die Neutralität des Psychiaters und
Psychotherapeuten in weltanschaulichen, Wahrheits- und Wertefragen sollte in
einem ausgewogenen Verhältnis zu seiner religiösen oder spirituellen Selbstdeklaration
stehen.
9. Aus-, Fort- und Weiterbildung: Die
psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Aus-, Fort- und
Weiterbildung muss sowohl hinsichtlich eines Grundwissens von Religions- und
Weltanschauungsfragen und insbesondere hinsichtlich diesbezüglicher Selbsterfahrungs-Angeboten
verbessert werden.
10. Forschung: Ein interdisziplinärer Dialog
zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik ist notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u.a. wichtig:
- Wahrnehmen von R/S-Bedürfnissen der Patienten,
- R/S als Behandlungshindernis und
- Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten.
Der vollständige Text der Empfehlungen der DGPPN zum Umgang mit
Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie findet sich im
Internet unter dem Link:
www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2016/religiositaet.html
[1] Die Zusammensetzung
der als "Task Force" bezeichneten Gruppe
bestehend aus Michael Utsch, Ulrike Anderssen-Reuster, Eckhard Frick, Werner
Gross, Sebastian Murken, Meryam Schouler-Ocak und Gabriele Stotz-Ingenlath sollte
Ausgewogenheit hinsichtlich Konfession und Religion, kultureller Herkunft,
Berufsgruppen-Zugehörigkeit sowie Genderaspekten sicherstellen.
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